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Einleitung

 


Corinna Pette: Materialien zur Untersuchung 'Romanlesen als Dialog. Subjektive Strategien zur Aneignung eines literarischen Textes'

Inhalt | Einleitung | 2 | 2.3 | 2.5

 


  1. Einleitung

Dieser Forschungsbericht enthält die Untersuchungsmaterialien einer qualitativ ausgerichteten Studie mit dem Titel 'Romanlesen im Dialog: Subjektive Strategien zur Aneignung eines literarischen Textes'. (Die Arbeit wird im Juventa-Verlag in der Reihe 'Lesesozialisation und Medien' veröffentlicht.) Er dient vornehmlich dem Zweck, interessierten Lesern der Arbeit Einblick in das Datenmaterial zu gewähren, wie es bei sechs Untersuchungsteilnehmern gewonnen wurde, die sich freiwillig dazu entschlossen hatten, denselben Roman (Morgen in der Schlacht denk an mich, Javier Marias, 1998) zu lesen und sich bei ihrer Lektüre wissenschaftlich begleiten zu lassen. Da bisher keine umfassenden Untersuchungen unter weitgehend natürlichen Bedingungen zum Lektüreprozess erwachsener Roman-Leser vorliegen, wurde die Datenerhebung unter dem Gesichtspunkt geplant und durchgeführt, möglichst viele und untersch iedliche Daten zu erhalten. Die Datensynthese und reduktion erfolgte in einem eigens hierfür entwickelten Verfahren (s.u.). Da im Rahmen der Veröffentlichung der Arbeit die Originaldaten aus ökonomischen Gründen nicht dem Text beigefügt werden konnten, die Überprüfbarkeit interpretatorisch gewonnener Aussagen und Ergebnisse jedoch gewährleistet sein sollte, fiel die Entscheidung auf eine separate Publikation des vollständigen Datenmaterials, auf welche in der als Dissertation veröffentlichten qualitativen Teil-Studie verwiesen wird.(Die Studie wurde im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktprogramms 'Lesesozialisation im Medienzeitalter' als Einzelprojekt ('Lesesozialisation im Erwachsenenalter: Strategien literarischen Lesens in ihrer Bedeutung für Alltagsbewältigung und Biographie') durchgeführt und von Michael Charlton geleitet. Vorarbeiten zur Studie wurden du rch die Stiftung 'Bildung und Wissenschaft' im Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft gefördert.)

Vor Abbildung des Datenmaterials (s. Kapitel 2), wie es für die einzelnen Leser erhoben wurde, erfolgt eine knappe Darstellung der Studie in ihrer Zielsetzung und Konzeption sowie deren wichtigste Ergebnisse.

1.1 Zielsetzung der Untersuchung

Das Ziel der Untersuchung bestand darin, empirisch ein möglichst umfassendes Spektrum an Lesestrategien nachzuweisen, die von Lesern bei der Lektüre eines Romans eingesetzt werden. Als Lesestrategien werden alle kognitiven, emotionalen und sozialen Handlungen aufgefasst, die Leser (- wenn hier von der männlichen Form Gebrauch gemacht wird, so schließt diese männliche Leser und weibliche Leserinnen ein -) vor, während und nach der Lektüre vollziehen, um den beim Lesen eines Romans angestrebten Genuss zu erlangen. Dem liegt eine Auffassung zugrunde, dass der Rezeptionsprozess ein umfassendes Geschehen abbildet, welches bereits beginnt, wenn der Leser sich entscheidet, einen bestimmten Roman zu lesen, und bestimmte Erwartungen gegenüber der Lektüre entwickelt oder sich ein entsprechendes Lese-Setting gestaltet, und welches nicht mit der Rezeption der letzten Seite des Buches endet, sondern die Vera rbeitung oder Nachbereitung z.B. in Gesprächen mit anderen einschließt.

Zum Erreichen der Zielsetzung sollte die Auseinandersetzung von sechs erwachsenen Lesern mit demselben Roman wissenschaftlich erforscht werden. Bei den Untersuchungsteilnehmern sollte es sich um Menschen handeln, die bereits im Verlauf ihres (Leser-)Lebens eine Reihe von Erfahrungen im Umgang mit literarischen Texten sammeln konnten. Neben dem Nachweis von Lesestrategien sollte überprüft werden, welche Funktionen die aufgezeigten Lesestrategien im Hinblick auf die Befriedigung kognitiver, emotionaler und sozialer Bedürfnisse der Leser übernehmen können und wie sie für die Bewältigung von Entwicklungsaufgaben von diesen genutzt werden können. Als Hypothese wurde formuliert, dass einerseits die vom einzelnen Leser erfahrene Lesesozialisation andererseits aber auch für ihn relevante Lebensthemen Einfluss auf den Rezeptionsprozess nehmen. Es sollte überprüft werden, inwieweit sich ein solcher Zusammenhang für die Gestaltung der Lektüreprozesse nachweisen lässt.

1.2 Durchführung und Auswertung der Studie

Sechs Leser, die sich freiwillig dazu entschieden hatten, den neu erschienenen Roman Morgen in der Schlacht denk an mich des spanischen Erfolgsautors Javier Marias zu lesen, wurden mittels eines umfassenden Instrumentariums in ihrem Lektüreprozess begleitet. Dazu wurde vor Beginn der Lektüre mit jedem Leser ein ausführliches Interview zu dessen Lesesozialisation geführt. Neben objektiven Daten war v.a. von Interesse, wie der einzelne Leser seine literarische Sozialisation erlebt hat und wie er sich heute als Leser sieht und zeigt. Zusätzlich wurde jedem Leser ein Fragebogen ausgehändigt, den er bis zum zweiten Interviewtermin ausfüllen sollte. Der Fragebogen enthielt standardisierte Fragen zur Lesesozialisation, zur Lesekompetenz und zum Vorwissen über den Roman Morgen in der Schlacht denk an mich. Die Leser wurden dann dazu angehalten, die Lektüre des Romans so vorzunehmen, als ob sie nicht an einer wissenschaftlichen Studie teilnehmen würden. Allerdings sollten sie einige Selbstprotokollierungen während der Lektüre vornehmen. Hierzu gehörte die Angabe von Lesezeiten und Leseorten, das Unterstreichen relevanter Textstellen, Angaben, wo ggf. zurück- oder vorausgeblättert wurde, Markierung von Textstellen die mehrmals gelesen wurden und wenn möglich die Angabe von Beobachtungen zum eigenen Leseverhalten. Außerdem wurden die Leser dazu angehalten, an einer bestimmten Stelle im Roman eine Vorauserzählung zu entwickeln. Für Selbstbeobachtungen eigenen Leseverhaltens sowie für die Verfassung der Vorauserzählung wurde den Lesern ein Lesetagebuch ausgehändigt. Im unmittelbaren Anschluss an die Lektüre erfolgte ein zweites Interview, welches aus drei Teilen bestand. Zunächst wurden die Leser dazu ermuntert, über den Roman und ihre Erfahrungen bei der Lektüre frei zu erzählen. Daran schlo ss sich die Befragung von ca. vier bis acht Textstellen an, die die Leser während der Lektüre in ihrem Leseexemplar unterstrichen hatten. Die einzelnen Textpassagen wurden den Lesern vorgelesen und diese sollten rekonstruieren, warum sie gerade diese Textstellen unterstrichen hatten. Im letzten Teil des Interviews wurden die Leser gebeten, kurz die für sie zur Zeit bedeutsamen Lebensthemen zu benennen. Dem Interview folgte abschließend eine standardisierte Nachbefragung anhand eines Interview-Leitfadens. Diese diente dazu, von allen Lesern Aussagen zu bestimmten Aspekten des Romans zu gewährleisten, eine Bewertung des Romans vornehmen zu lassen und eine Beschreibung des Rezeptionsprozesses von den Lesern selbst zu erhalten.

Die erhobenen Interviews wurden transkribiert und liegen in Textform schriftlich fixiert vor (s. Kapitel 2). Von der Nachbefragung wurden Grobtranskripte angefertigt. Die Selbstprotokollierungen, die die Leser in ihrem Leseexemplar eingetragen haben, wurden in ein Auswertungs-Exemplar des Romans übertragen, so dass sie jederzeit zur Verfügung standen.

Die Auswertung erfolgte nach dem Vorgehen der Dialoganalyse (s. Charlton und Pette, 1999; Pette und Charlton, 1999). Hierbei handelt es sich um eine Vorgehensweise, die unterschiedliche Methoden integriert, um das Datenmaterial in seiner Komplexität zu reduzieren. Der Dialoganalyse liegt die Annahme zugrunde, dass die Leser-Text-Interaktion einen dialogähnlichen Kommunikationsprozess darstellt, wobei der Leser ähnlich einer natürlichen Kommunikationssituation auf den Text reagiert. Da er jedoch weiß, dass er mit seinen Antworten vom Autor nicht gehört wird und keine direkte Rückkopplung zwischen den Gesprächspartnern vorliegt, erfolgt die Auseinandersetzung mit dem Text in einem 'inneren' Dialog (im Sinne von Mead, 1968). Die Leser-Text-Interaktion (mediale Kommunikation) sowie die 'inneren' Dialoge, die der Leser bei der Lektüre führt, sind nicht von außen beobachtbar, sondern müssen rekonstruiert bzw. erschlossen werden. Hierzu eignet sich die Anschlusskommunikation, die in der dargestellten Untersuchung im Gespräch zwischen Forscherin und Leser über den Roman stattfindet. Dieses nach der Lektüre geführte Interview bietet dem Leser die Möglichkeit, sich nachbereitend noch einmal mit der Lektüre auseinander zu setzen. Dadurch wird die Medienaneignung teilweise der direkten wissenschaftlichen Beobachtung zugänglich.

Die Datenauswertung erfolgte anhand eines Manuals und hatte das Ziel, die Befunde, die aus verschiedenen Datenquellen stammen, einzelnen Themenbereichen zuzuordnen, z.B. Person des Lesers, Lebenssituation und relevante Lebensthemen, erfahrene Lesesozialisation, Gestaltung der Gesprächssituation, Präsentation als Leser, Rekonstruktion des Leseprozesses, eingesetzte Lesestrategien vor dem Hintergrund erfahrener Lesesozialisation und aktueller Lebensthemen. Die Ergebnisse der Analyse der einzelnen Rezeptionsprozesse werden in Form von Falldarstellungen präsentiert. Aus Gründen der Lesbarkeit reduziert sich der Auflösungsgrad der Darstellung von Fall zu Fall. Im ersten Fallbericht sind die einzelnen Auswertungsschritte, die bei jedem der Leser durchgeführt wurden, im Detail dargestellt, so dass das analytische Vorgehen nachvollziehbar wird. Die folgenden zwei Fallberichte werden in stärker zusammengefasster Form präsentiert, w&a uml;hrend die restlichen drei Fälle in einer Weise dargestellt werden, die sich am Vorgehen einer grounded theory orientiert, d.h. nur noch im Hinblick auf ihre Besonderheiten ausgeführt werden.

1.3 Ergebnisse

Die ausführliche Analyse der Rezeptionsprozesse der sechs Leser, die denselben Roman rezipiert haben, konnte anhand der empirisch nachgewiesenen Lesestrategien vor, während und nach der Lektüre die Gestaltung der Rezeption, wie sie durch den einzelnen Leser erfolgt ist, transparent machen und Zusammenhänge zwischen der erfahrenen Lesesozialisation und den aktuellen Lebensthemen der Leser aufzeigen. Auch wenn es sich bei allen sechs Untersuchungsteilnehmern um Menschen handelt, die seit ihrer Kindheit mehr oder weniger mit Büchern vertraut sind, ließen sich Spuren nachweisen, die einen Hinweis darauf liefern, dass je nach erfahrener Lesesozialisation die Anzahl eingesetzter Lesestrategien variierte und sich die Leser v.a. im Hinblick auf die Flexibilität, mit der sie einzelne Lesestrategien einsetzten, unterschieden. Für alle sechs Leser ließen sich Zusammenhänge zwischen der Gestaltung der Lektüre und ih rer momentanen Lebenssituation plausibilisieren.

Über die sechs Fälle hinweg konnte ein umfassender Katalog empirisch nachweisbarer Lesestrategien aufgestellt werden. In diesem wurden die aufgefundenen Lesestrategien zu übergeordneten Handlungszielen zusammengefasst, so dass sich unterschiedliche Funktionsklassen ergeben. Hierbei handelt es sich im Einzelnen um:

     

  • Lesestrategien im Dienst der Verstehenssicherung (Bedeutungskonstruktion; Sinngebung),
  •  

     

  • Lesestrategien zur Überbrückung von Verständnislücken,
  •  

     

  • Lesestrategien zur Sicherung von Lesebedürfnissen
  •  

     

  • Lesestrategien zur Regulation emotionaler Betroffenheit
  •  

     

  • Lesestrategien zur Erleichterung der Aneignung des Medienthemas an die eigene Lebenspraxis
  •  

     

  • Lesestrategien zur Erhöhung der Lese-Motivation
  •  

     

  • Lesestrategien der Selbstvergewisserung/Identitätssicherung, die sich untergliedern lassen in:
  •  

 Lesestrategien der Vergewisserung eigener Erfahrungen

 Lesestrategien der Vergewisserung eigener Einstellungen, Wertmaßstäbe und Normen

 Lesestrategien der Vergewisserung eigener Leser-Kompetenz

 Lesestrategien der Vergewisserung eigener Leser-Bedürfnisse

 Leserstrategien der Vergewisserung der eigenen Geschlechtsrolle.

Die Auflistung der nachgewiesenen Lesestrategien entsprechend ihrer Funktionen konnte zeigen, dass es ein breites Spektrum von Lesehandlungen gibt, auf welches die einzelnen Leser bei der Lektüre des zur Untersuchung ausgewählten Romans zurückgriffen. Dabei hat es sich gezeigt, dass es Lesestrategien gibt, die von allen Lesern mit derselben Funktion versehen und eingesetzt werden, aber auch solche die zwar von allen Lesern verwendet, aber unterschiedlich funktionalisiert werden. Auch bei den einzelnen Lesern konnten Unterschiede dahingehend festgestellt werden, ob sie eine Lesestrategie immer mit demselben Handlungsziel einsetzten oder ob für sie die Funktionen im Verlauf des Rezeptionsprozesses variierten. Wenn auch eine einzelne Lesestrategie unterschiedlich funktionalisiert werden kann, d.h. polyfunktional ist, so hat sich gezeigt, dass nicht jede Lesestrategie jede Funktion übernehmen kann. Welchem Handlungsziel eine Lesestrategie im k onkreten Fall dient, muss gesondert unter Verwendung weiteren Wissens über den Leser (Lesesozialisation; Lebenssituation; aktuelle Lebensthemen) und auch den Text bestimmt werden.

Die Aussagekraft der gewonnenen Ergebnisse beschränkt sich allerdings auf eine ausgewählte Gruppe von Lesern (regelmäßige Romanleser) und einen speziellen, literarisch anspruchsvollen Roman. In weiteren Studien müsste einerseits die Häufigkeit des Einsatzes empirisch nachgewiesener Lesestrategien an einer größeren Stichprobe untersucht werden, wobei es sicherlich von Interesse sein könnte, den Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Variablen (Milieu, Alter, Geschlecht, professionelle vs. nicht-professionelle Leser) und bevorzugten Lesestrategien zu überprüfen. Andererseits müssten die aufgedeckten Lesestrategien auch an unterschiedlichen literarischen Texten nachgewiesen werden. Der sich in der vorgelegten Studie abzeichnende Zusammenhang zwischen der erfahrenen Lesesozialisation eines Lesers und der Größe des zur Verfügung stehenden Spektrums von Lesestrategien sowie die Flexibili tät ihres Einsatzes müsste ebenso an einer größeren Stichprobe getestet werden.

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